17 August 2011

Schwedische Montagsdemos

79 Montage waren es, die zwischen der litauischen Unabhängigkeitserklärung vom 11.März 1990 und Mitte September 1991, als auch international die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt wurde. Jeden Montag gab es in Stockholm auf dem Norrmalmstorg Solidaritätsdemonstrationen für die Freiheit Estlands, Lettlands und Litauens. Darin erinnerte jetzt der schwedische Ministerpräsident Reinfeldt am selben Ort, zusammen mit den drei Regierungschefs Kubilius, Dombrovskis und Ansip (siehe TheLocal.se, schwedisches Radio, Schwedischer Reichstag).
Kubilius, Dombrovskis, Ansip, Reinfeldt -
Schuldenabbau in Stockholm
Den Worten Reinfeldts zufolge haben sich diese Montagsdemos in dieser Zeit über ganz Schweden verbreitet, an 50 verschiedenen Orten. Aber nicht nur das: Ende Mai / Anfang Juni 1990 reisten hochrangige Delegationen der drei Länder - damals noch Vertreter der "Obersten Räte" nach Schweden und wurden dort freundlich und mit allen Ehren empfangen. Ebenfalls noch 1990 wurde ein "Baltisches Informationsbüro" in Schweden gegründet. Die Art und Weise ist bemerkenswert: die schwedische Regierung forderte gewissermaßen die Vertreter der litauischen, lettischen und estnischen Volksfronten auf, sich an die staatliche schwedische Agentur für internationale Zusammenarbeit (schwed. Abk. SIDA) zu wenden um finanziell bei dem Vorhaben unterstützt werden zu können.Und ebenfalls noch vor dem August 1991 gegannen in Schweden Ausbildungskurse für Nachwuchsdipomaten aus Estland, Lettland und Litauen.
Schweden haben "Ehrenschulden" an die baltischen Staaten ("debt of honour"), sagte Reinfeldt in seiner Rede zum 15.August 2011. Vielleicht wird mancher Este, Lette oder Litauer dazu auch eher die Situation am Ende des 2.Weltkriegs erinnern, als Schweden Flüchtlinge an die sowjetischen Behörden auslieferte.

Diese baltisch-schwedische Allianz des Erinnerns fällt aus deutscher Sicht wohl besonders auf, weil Ähnliches in Deutschland bisher ganz undenkbar wäre. Zwar gab es auch in verschiedenen deutschen Städten immer wieder Solidaritätskundgebungen für die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen, auch zwischen dem März 1990 und dem August 1991 - aber es ist deutschen Behörden und Politikern offenbar immer noch lästig, daran zu erinnern. Genau so lästig, wie "die Balten" 1990 waren, als sie auf ihre eigenen Rechte hinwiesen, und darauf bestanden, nicht erneut nur den Interessen der Großmächte untergeordnet zu sein. Die überwiegende Zahl führender deutscher Politiker war damals auf solchen pro-baltischen Veranstaltungen auch gar nicht zu sehen. Zwar werden in der offiziellen Geschichtsschreibung die Tage nach dem misslungenen Putsch gegen Gorbatschow heroisiert und erinnert - so stark, dass inzwischen sogar schon einige verkünden, die baltischen Staaten hätten ihre Unabhängigkeit auch erst dann verkündet, als sie Deutschland dann endlich mit wenigen Tagen Verzögerung anerkannte. Auf eine Feier in Deutschland in Anerkennung dessen, was sich in Litauen, Lettland und Estland zwischen März 1990 und August 1991 tat, wie deren Amtsträger - im Gegensatz zur freundlichen Aufnahme in Schweden - in Bonn bei deutsche Politiker in die Hinterzimmer verwiesen wurden: darauf werden wir wohl noch eine Zeitlang warten müssen.

Die deutsche Außenpolitik strickte in den 90er Jahren eifrig an der Legende von "Deutschland, Anwalt der Balten". Dabei gehen einige wohl davon aus, dass die Betroffenen vor der internationalen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit irgendwie rechtlos waren, also immer nur die Interpretation der Machthaber in Moskau zählte. Da passt der Spruch immer noch, der da sagt: Anwalt wohl - aber dieser scheute es, mit seinen Klienten auch vor Gericht zu gehen! (zweite Variante: der Anwalt begann erst dann zu arbeiten, als seine Klienten seine Rechnung in einer ihm vorteilhaften Währung bezahlen konnten)

Nun werden es die Schweden besser beurteilen können, ob Schweden wirklich 1990/91 so "baltenfreundlich" war, wie es die heutige Darstellung von regierungsamtlicher Seite gerne darstellen möchte. Das Portal "Thelocal" zitiert einige kritische Stimmen während der Kundgebung in Stockholm, die zurecht darauf hinweisen, Reinfeldt könne nur deshalb heute so schön reden, weil damals seine Partei nicht an der Macht gewesen sei. Das Leserforum auf dieser Seite landet dann sehr schnell wieder bei gegenseitigen Schuldzuweisungen: Schweden liefert Balten aus und rettet Juden, Balten angeblich eifrige Mitglieder der Waffen SS, und so weiter. Die öffentliche Diskussion ist auch in Schweden ziemlich kontrovers. Auf einen Artikel von Reinfeldt im "Aftonbladet" gibt es 430 Leserkommentare, vielfach auch zum Thema "schöne Politikersprüche, bittere Realität". Dagens Nyheter schreibt über die "baltische Lektion" und bekommt ebenfalls 100 Leserkommentare. Svenska Dagbladet bringt ein Interview mit dem estnischen Präsidenten Ilves. Göteborgs-Posten bringt, abseits von der Alltagspoltik, einen Bericht über fruchtbare litauisch-schwedische Zusammenarbeit bei Mode und Design. Vielleicht funktioniert die wirkliche Zusammenarbeit zwischen Litauen und den (west)europäischen Nachbarn wirklich besser abseits der großen Reden und Gedenktage. Aber dennoch: Politiker sollten sich ein wenig in der baltischen Befindlichkeit auskennen, bevor sie wieder öffentlich Dinge der Vergangenheit rühmen, die im Moment des aktuellen Geschehens zu unterstützen sie sich gescheut hätten.

Zu den Beziehungen Schwedens zu den baltischen Staaten in den Jahren 1989-1991 ein Buchtipp: Lars Peter Fredén: „Förvandlingar – Baltikums Frigörelse och svensk diplomati 1989-91“, Bokförlaget Atlantis, Stockholm 2004.

12 August 2011

Fettige Näpfchen und diplomatische Pauken

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen donnert der Name "Litauen" gewaltig über die Flure diplomatischer Vertretungen und europäischer Ministerien. Rächt es sich jetzt, dass in der Diplomatie die Benutzung einer größt möglichen Pauke fast nie zum geeigneten Mittel der Verständigung erklärt wird? Hatte die Diskussion um den ehemaligen KGB-Oberst Mihail Golowatow noch Diskussionen um die genaue Bewertung der Ereignisse von 1991 und dem litauischen Weg zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit ausgelöst, so dreht es sich jetzt ebenfalls um einen Fall der Zusammenarbeit zwischen Justizministerien.

In Belorussland (der "letzten Diktatur Europas", wie viele sagen) ist Ales Belyatsky, einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten des Landes, unter dem Vorwurf der angeblichen Steuerhinterziehung festgenommen worden. Belyatsky's Organisation "Vjasna"unterstützt vor allem politisch Verfolgte und deren Angehörige (siehe TAZ 9.8.11 und 10.8.11).
Es war das litauische Justizministerium, dass sich veranlaßt sah, Hunderte von Kontodaten von Weißrussen bei litauischen Banken an die Justizbeamten des Lukaschenko-Regimes weiterzureichen. So verschaften sie ihren "Kollegen" einen guten Überblick, welcher belorussische Staatsbürger mittels Konten in Litauen zum Beispiel über Unterstützung durch Projektgelder der EU verfügt - daher der Vorwurf des "Steuervergehens". 


Ein Teil der litauischen Presse empört sich nun über das Verhalten des eigenen Ministers - aber einen Rücktritt wird es wohl nicht geben. Außenminister Ažubalis ließ über den litauischen Botschafter in Minsk eine mühsam formulierte Erklärung gegenüber der Frau Beliatsky's und belorussischen Menschenrechtlern abgeben. Litauen verurteile "den Gebrauch von im Zuge von Amtshilfeverfahren gegebenen Informationen für politische Zwecke". Hm. Von der Möglichkeit grundsätzlichen Schutzes sensibler Daten für jeden einzelnen Bürger ist nicht die Rede.

Manche reden ja in Litauen auch gerne von einer "Nord-Süd-Achse" in Osteuropa oder Nordosteuropa. Also eine regionale Zusammenarbeit ohne eine vorherrschende Rolle weder von Russland noch von Deutschland. Wer vielleicht nicht glauben mag, dass Litauen in der Mitte Europas liegt, dann aber doch im Zentrum einer Interessenvereinigung von Estland über Lettland, der Ukraine, Polen, möglichst bis Georgien. Und natürlich Belorussland. Schon seit Jahren versucht sich die litauische Außenpolitik hier zu positionieren, mal als Vermittler hier, mal als Konferenzveranstalter dort. Schon deshalb ist der Fall Belyatsky nun ein großer Fleck auf der gewünschten weißen Weste des Regionalpartners Litauen.

Klar, dass gerade österreichische Medien den Fall interessiert beobachten (siehe z.B. Wiener Zeitung). Linas Jegelevicius bezeichnet das litauische Verhalten bezüglich Belorussland in der BALTIC TIMES als "Imitieren Österreichs".Es kann ja schon jemand mal den Antrag stellen, das Wort "österreichisieren" (= Unterstützung von undemokratischem Regierungshandeln?) in die entsprechenden Wörterbücher aufzunehmen.

01 August 2011

Europäische Nachhilfestunden

Wer dieser Tage weder Österreicher noch Litauer ist, an dem geht die hitzige Diskussion wohl vorbei. Anfangs schien es hauptsächlich eine Sache von 52 Minuten zu sein - genau diese Zeitspanne lag zwischen der Wieder-Freilassung des Ex-KGB-Mannes und Einsatzleiters der Sondereinheiten der "Schwarzen Barette" von 1991 in Vilnius, Michail Golowatow, und dem Eintreffen der von Litauen geforderten detaillierteren Angaben zu dem auf Golowatow ausgestellten Haftbefehl.

KGB auf Alpenurlaub
Dies geschah am Donnerstag, den 14.Juli. In den darauf folgenden Stunden des herannahenden Wochenendes muss bei vielen Behörden ja mit frühem Feierabend gerechnet werden - so auch hier. Aber wäre das Ergebnis - die Freilassung des kurzfristig Festgehaltenen - ein anderes gewesen, wenn ein paar Stunden oder vielleicht auch ein paar Tage verstrichen wären? Golowatow war - so das österreichische Juristenösterreichisch - in "verfügte Anhaltung" genommen worden, also nicht etwa in Haft. Dass Golowatow gar nicht erst in eine Haftanstalt überstellt wurde, soll die russische Botschaft in Österreich erreicht haben. Angehalten und wieder gehen lassen, das klingt schon sehr noch einem sehr kurzfristigen und gar nicht dringlichen Vorgang. 

Aber wie auch immer: dieser immer noch anhaltende Streit zwischen Litauen und Österreich zeigt interessante Ergebnisse und Schattierungen, und geht weit über die Frage von einer möglichen privaten Schuld Michail Golowatows an den Toten vom Januar 1991 in Vilnuis hinaus. Vielleicht werden später einmal beide Seiten sagen: gut, dass diese Diskussion damals im Juli 2011 wieder aufgebrochen ist. Denn angesichts vieler schöner Reden zur Freundschaft und dem Zusammenhalt der Länder und Völker in Europa zeigen sich hier viele Einzelfragen, die offenbar über längere Zeit ungelöst und unberührt liegen geblieben sind.

Historisches Gedächtnis
Dieses "Infoset" schenkte der litauische Außenminister Ažubalis
seinem österreichischen Amtskollegen Spindelegger
als Antwort auf dessen Erläuterungsversuche im Fall Golowatow
Es gibt ja den schönen Spruch vom "Mantel der Geschichte", den man ergreifen müsse, um im richtigen Moment den Lauf der Ereignisse beeinflussen zu können. Aber so richtig bekannt und im allgemeinen Bewußtsein verwurzelt sind nur die Daten, die auch für Deutschland akzeptabel erschienen (das sich unter Kohl und Kinkel immer als "Anwalt der Balten" bezeichnet hatte). Erst nachdem es im August 1991 einen Putsch gegen den im Westen positiv bewerteten Sowjetführer Gorbatschow gab, wandten sich die Machthaber denen zu, die ihn überwanden und Konsequenzen daraus zogen. Aber was ist mir den Volksbewegungen zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit, die sich schon 1987/88 in den baltischen Staaten gründeten? Selbst in den damals noch bestehenden "Obersten Sowjets" errangen nach und nach diese Volksbewegungen die Mehrheit. Bereits ab dem Februar 1990 hatte die Sympathisanten der im Juni 1988 gegründeten "Sąjūdis" im litauischen Obersten Sowjet die meisten Sitze. Bereits am 23.August 1989 hatte es die gewaltige Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn gegeben, so dass in dieser Zeit bereits klar wurde, was die Menschen wollten. Das Oberste sowjetische Gremium (der Oberste Rat) in Litauen wählte Vytautas Landsbergis zu seinem Vorsitzenden. Nur Moskau sträubte sich noch - und zwar ausdrücklich Gorbatschow, der ja an eine innere "Reform" des Systems glaubte, und den baltischen Staaten das Recht auf eigene Entscheidungen abstritt. Am 11.März 1990 erklärte Litauen die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit. Es war also nicht - wie manche österreichische Zeitungen auch heute noch melden - ein Aufstand gegen eine eigene (sowjet-litauische?) Regierung. Nein, die Mehrheit der litauisch-sowjetischen Amtsträger hatten sich längst auch von der kommunistischen Partei losgesagt - auch wenn bei einigen vielleicht ein wenig Populismus mitgeschwungen haben mag. Gorbatschow - der in Deutschland zur gleichen Zeit bereits um die Modalitäten einer Wiedervereinigung verhandelte - verhängt im April 1990 eine Wirtschaftsblockade. 

Erst Monate danach - am 13.Januar 1991 - dann die blutigen Ereignisse in Vilnius, rund um den Fernsehturm und das Parlament. Die Sondereinheiten der "schwarzen Barette" (Gruppe "Apha", unter Kommandant Golowatow) versuchen zurückzudrehen, was inzwischen Zehntausende von Menschen mit ihrem eigenen Körper und ihrer Präsenz - aber ohne Waffen - zu verteidigen bereit sind. 11 Menschen wurden erschossen, zwei von Panzern überfahren, einer starb an einem Herzinfarkt. Es gab Hunderte von Verletzten.

Wer schreibt Geschichte? 
Aber heute - 20 Jahre später - kommt die eher von den Wessis geschriebene Geschichte wieder zum Vorschein. Die besteht offenbar nur aus den Stichworten: Gorbi war gut, die Putschisten gegen ihn waren böse, und danach wurde alles gut (nur seltsam, dass die Sowjetunion zusammenbrach?). Aber beide Seiten haben Defizite in der Diskussion unter- und miteinander - das wurde nicht nur durch die schlecht kommunizierenden Behörden deutlich.Auch in Litauen sind die Kenntnisse über Österreich oder auch Deutschland nicht gerade gewachsen - allzu sehr haben sich viele konzentriert auf die rein ökonomische und konsumorientierte Seite einer Beziehung. 
Es ist die Stunde der europäischen Nachhilfestunden. Viele Äußerungen auf beiden Seiten prägen nicht das Zuhören, was andere zu sagen haben, sondern Versuche Vorbedingungen zu formulieren für die Akzeptanz des Diskussionspartners. So als ob beide Seiten sich nicht ganz ernst nehmen würden gegenseitig.

Beispiele gefällig? Einige Zitate aus Zeitungen und Internetforen.
- die Litauer sollen erst mal im eigenen Lande die Korruption beseitigen, bevor sie sich über eine nicht funktionierende österreichische Justiz beschweren
- die Litauer sollen sich nicht über die 14 Toten von 1991 beschweren, sondern froh sein dass sie so günstig aus der Sowjetunion entlassen wurden
- die Litauer sollen doch froh sein, dass sie 2004 in die EU rein gelassen wurden, und nun können sie auch noch nach Österreich oder Deutschland gehen um dort zu arbeiten, wenn sie wollen
- die Litauer sollen bitte lieber die Täter des Holocaust verfolgen als die Funktionsträger der Sowjetzeit
- diese Litauer sollen bitte andere nicht mit in ihre Russophobie hineinziehen
- europäische Haftbefehle gelten eben nicht rückwirkend, sondern - was Litauen angeht - erst ab 2004

Aber auch auf litauischer Seite gibt es Vorbehalte, die Argumente der österreichischen Seite zu akzeptieren.
- Europa müsse erstmal die Verbrechen Stalins und des Bolschewismus genauso anerkennen wie die des Nationalsozialismus
- die viel gepriesenen "europäischen Werte" würden wohl eher den Interessen einiger Staaten entsprechen, als denen aller zusammen
- das Interesse an der Lieferung von russischem Gas sei nun mal mehr wert als ein kleines Nachbarland
- selbst falls KGB-Mann Golowatow keine Schuld an den Ereignissen vom Januar 1991 trage, so müsse auch bei dessen "Chef" Gorbatschow nachgefragt werden, wieviel Einblick und Kenntnis er damals in das Geschehen hatte

Litauen? Was ist eigentlich Litauen?
Bisher verstand der Westen die europäische Einigung weitgehend als Einbahnstraße: wir kratzen gnädig etwas Geld zusammen, um den armen Brüdern und Schwestern im Osten zu helfen. Staunend steht zumindest ein Teil Österreichs nun vor der Tatsache, dass diese "Geholfenen" durchaus in der Lage sind, bei gegebenem Anlaß spöttische Karikaturen über das "Helferland" zu veröffentlichen. Litauen? Was glauben die denn wer die sind? 

Andererseits hat auch Litauen durchaus ein ambivalentes Verhältnis zur eigenen Sowjetvergangenheit. Es gibt keinerlei Gesetze, die frühere Sowjetfunktionäre heute von hohen Ämtern in Staat und Verwaltung fernhalten würde. Und es gibt bisher auch keinerlei Erklärung dafür, warum das Haftgesuch gegen Golowatow erst im Oktober 2010 ausgestellt wurde.

Jedenfalls sollten Europäer nicht glauben, nur weil sie vielleicht keine Österreicher oder Litauer sind, sie hätten mit dieser Diskussion nichts zu tun. Ob wir auf absehbare Zeit mit Putin-Russland zu einer gemeinsamen Auffassung von den wichtigen Geschehnissen der jüngeren Geschichte gelangen werden, ist bisher nicht absehbar. Zusammen mit Litauen sollte es eigentlich ein wenig leichter sein. 

Wer's heute noch glaubt: konstruierte
SowjetHarmonie, hier Abbildung aus einer
Propagandazeitschrift aus dem Jahre 1980
Hoffnungen der Ewig-Gestrigen
Wer sich am Beispiel ansehen möchte, wie es in Deutschland ausschaut, wenn wir diese Art Diskussion um aus baltischer Sicht wichtige Themen vernachlässigen, darf sich gern mal die Beiträge der "alten Genossen" ansehen - also jener einfältigen Menschen, die uns als Zeitreise gleich mehr als 20 Jahre zurück versetzen und die so tun, als habe es den Hitler-Stalin-Pakt, die Aufteilung der Interessengebiete unter den beiden Terrorregimes und deren erneute unrechtmäßige Besetzung nach dem Krieg nie gegeben. 


Mal wieder finden wir Beispiele solcher Ewig-Gestrigen ausgerechnet in Zeitschriften, die sich vom Namen her ziemlich jung gebaren. Da wird unter Bezugnahme auf "die litauische Seite" folgendes geschrieben, Zitat: "Die Erzählung von der »illegalen russischen Besatzung« der baltischen Länder, der alle Maßnahmen der sowjetischen Behörden zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung als Kriegshandlungen erscheinen läßt. Die Existenz der Sowjetunion und der baltischen Sowjetrepubliken in ihrem Bestand war indes eine völkerrechtlich anerkannte Tatsache" (Werner Pirker in Junge Welt, 23.7.11). Und weiter: "Bei der Auseinandersetzung um den Fernsehturm von Vilnius, die am 13. Januar 1991 entbrannt war und vier Menschen das Leben kostete, handelte es sich deshalb auch nicht um eine ausländische Aggression, sondern um die Niederschlagung eines Aufstandsversuches. Der Kampf um Rundfunk- und Fernsehstationen ist stets ein Kampf um die strategische Oberhoheit (über die öffentliche Meinung)."
 
Ja, sie mal an! Nun verstehen wir, warum Kommandant Golowatow so enttäuscht war, als er nach den Januarereignissen 1991 nach Moskau zurückkehrte (siehe das Interview mit ihm aus dem Jahr 2004). Denn niemand lobte ihn dort - hatte er doch nur versucht, die "strategische Oberhoheit" über ein Land zu bewahren, in dem fast alle nichts anderes mehr wollten als dass endlich die längst beschlossene und verkündete Unabhängigkeit anerkannt werden würde. Angesichts der Toten - und der internationalen Aufmerksamkeit - wollte in Moskau mit dieser Aktion damals niemand mehr etwas zu tun haben (nichts gewußt, nichts gesehen, nicht gewollt). Wenn das sich heute wieder geändert haben sollte - und Golowatow als "Pensionär" nun plötzlich posthum zum "Helden der Sowjetunion" erhoben werden sollte - dann sicher nicht den gemeinsamen Werten in Europa wegen - dessen sollten wir uns bewußt sein.