24 Juli 2016

Borisas wird's schon richten

Einige Europäer reagierten geschockt, als die neue britische Regierungschefin Theresa May ausgerechnet den bisherigen Wortführer der "Brexit"-Kampagne Boris Johnson zum Außenminister machte. Gut im Gedächtnis sind nicht nur seine populistischen Sprüche gegen die EU, sondern auch Aussagen über andere Politikerinnen und Politiker; so sagte er über Hillary Clinton schon mal, sie sehe aus wie eine "sadistische Krankenschwester in der Psychiatrie", US-Präsident Obama war für ihn ein "Halb-Kenianer", und sogar vor der Queen scheute er nicht zurück, indem er behauptete, sie möge ja die ehemaligen Kolonien deshalb so gern, weil sie dort bei ihren Staatsbesuchen regelmäßig "eine jubelnde Menge fähnchenschwingender Negerlein" zur Begrüßungerwarten könne. - Genüßlich notieren nun Journalisten Johnsons' Verhalten auf der ungewohnten diplomatischen Bühne, z.B. beim Zusammentreffen mit US-Amtskollege John Kerry (NZZ). Vom "Stolpern auf der Weltbühne" oder "Diplomatie-Stümper" (ZEIT) ist da die Rede - manche sehen den früheren Polterer auch schon in "eine Art offenem Strafvollzug" (Stern).

In Litauen ist das anders. Die Litauer schauten sich auch die Vergangenheit von Alexander Boris de Pfeffel Johnson (so der volle Name) an, und suchen nach Gemeinsamkeiten. Und, obwohl es bereits bekannt war, dass es einen türkischen Urgroßvater namens Ali Kemal gab - damals Innenminister des Osmanischen Reiches - suchten die Litauer weiter und fanden einen weiteren Urgroßvater: einen Litauer. 
rot eingefärbt: Länder, die Boris Johnson schon vor
seinem Amtsantritt als Außenminister beleidigt
haben soll - Litauen ist nicht dabei (Quelle:"Bigthink.com)
Die Recherche wurde hauptsächlich von der Zeitung "Lietuvos Rytas" betrieben. "Es gab einen Elias Avery Loew, geboren am 15. Oktober 1879 in Kalvarija, damals zum russischen Zarenreich gehörig", schreibt die Zeitung.
"Später änderte er seinen Namen in 'Low', und er war der Vater von Johnson's Großmutter. Die Eltern von Elias Low waren Juden und beide in Litauen geboren, die Familie wanderte aber später in die USA aus." Unter seinen Nachkommen ist auch die britische Künsterlin Charlotte Johnson Wahl - die Mutter des neuen Chefdiplomaten Boris.

Eventuelle Bezüge zum deutschen Fußball-Bundestrainer werden an dieser Stelle (leider) nicht aufgedeckt (Elias Avery Loew starb 1969 in Bad Nauheim, wie schon Wikipedia weiss). Beim Antrittsbesuch von Boris Johnson (Borisas Jonsonas?) in Vilnius lud der litauische Außenminister Linkevičius seinen britischen Amtskollegen zu einem Besuch des Wohnortes seiner Vorfahren ein - worauf dieser angeblich "very amused" reagierte.

Sollte Johnson Kalvarija besuchen, heute ein kleiner Ort nahe der litauisch-polnischen Grenze, wird er nach Spuren des Lebens, so wie es im 19.Jahrhundert war, ziemlich suchen müssen: der Ort wurde schon im 1.Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen und verlor viele seiner Einwohner. Im 2.Weltkrieg wurde vor allem die jüdische Bevölkerung verfolgt und ermordet (siehe auch "Holocaustatlas.lt") - Borisas würde wohl sagen: es war wohl besser, dass meine Vorfahren schon vorher ausgewandert sind.

09 Juli 2016

Liddl in Lidltuva

Eigentlich hatte das niemand erwartet in Litauen: die deutsche Lebensmittelkette "LIDL" schien schon vor 10 Jahren die baltischen Märkte verloren zu haben. "Scheitern im Baltikum" schrieb 2006 das "Manager-Magazin", und die "Wirtschaftswoche" urteilte: "Lidl scheitert im Norden." Damals wurden bereits erworbene Grundstücke wieder verkauft, und Lidl-Vertreter wurden mit der Aussage zitiert, die baltischen Staaten seien als Markt einfach zu klein.

Inzwischen ist Litauen "Maxima"-Land. Gegründet 1992 von inzwischen legendären zwei Medizinstudenten, inzwischen im Besitz der Holding "Vilnius Prekyba", gibt es inzwischen 235 "Maxima"-Supermärkte in Litauen. 550.000 Kunden in Litauen pro Tag zählt die Maxima-Geschäftsleitung, und 1,4 Milliarden Euro Umsatz. 16.000 Beschäftigte in Litauen, 30.000 in Lettland, Polen, Weißrussland und Litauen insgesamt. Daneben gibt es in Litauen auch noch Märkte von IKI, RIMI, NORFA und AIBÈ.

Leben wie im Werbespot:
konsumieren was geht ...
Und nun LIDL. Kommentare in litauischen Medien zeigen. dass der große Zuspruch der neuen Läden überrascht - lange Schlangen vor vielen Geschäften, große Euphorie der Litauerinnen und Litauer auf der Suche nach Preisnachlässen und Sonderangeboten (siehe Video). Vielleicht hat überrascht, dass die Marke "LIDL" bei Litauerinnen auch schon einen hohen Bekanntheitsgrad hatte - aber schließlich gibt es schon seit einiger Zeit den Einkaufstourismus mittels Billigflieger, der eigentlich nur vor einheimischen Produkten halt macht.

"2015 gab es die bemerkenswerte Situation, dass es in Litauen überhaupt keine Discounter gab", sagt Jekaterina Smirnova in ihrem Blog bei Euromonitor (siehe auch: delfi.lt). Sie weist auch darauf hin, dass es in letzter Zeit sowohl einen zunehmenden Strom von Einkaufstourimus Richtung Polen gegeben habe, wie auch sogar einen Boykott verschiedener Geschäfte wegen hoher Preise. Andererseits stünden bei LIDL nur 20% einheimische Produkte im Regal - auf dieses Argument baute u.a. MAXIMA sehr stark. Es gibt aber nur vier Lebensmittel-Großhändler in Litauen - Maxima LT, Palink, Norfos Mazmena and Rimi Lietuva - MAXIMA hält dabei mit 36% den größten Anteil.

Rein ökonomisch braucht also die Konkurrenz in Litauen zunächst keine Angst vor LIDL zu haben - so schnell wird Litauen nicht zu LIDLTUVA. Auffällig aber vor allem die vielen abwertenden Kommentare in den "sozialen" Netzwerken: Spott für die Schlange Stehenden. Vielleicht sehen die einen hier irregeleitete Konsumjünger, für andere ist offenbar der "Homo Sovieticus" auferstanden, der eben Schlange stehen gewöhnt sei. Es wird aber auch daran erinnert, dass viele in Litauen mit 500 Euro monatlich auskommen müssen, also müsse man doch denjenigen danken, die Waren "zu humanen Preisen" anbieten. In den ersten Verkaufstagen Anfang Juni soll es sogar Schwächeanfälle bei älteren in den Warteschlangen Stehenden gegeben haben - Rettungswagen waren im Einsatz, Trinkwasser musste bereit gestellt werden. Auch ein schon zu anderen Anlässen erprobtes "Lockmittel" kam zum Einsatz: billige Bananen.

Ob LIDL allerdings Litauen als Markt so richtig ernst nimmt, muss abgewartet werden. Die Schwarz-Gruppe, zu der LIDL gehört, plant (laut "Manager-Magazin") 2018 einen noch wesentlich größeren Markt zu erobern, sicherlich auch mit wesentlich höherem Risiko: die USA.